Wissenschaftler gehörte der mennonitischen Kirche an / Er sah Gottes Wirken im Kosmos
Foto: Im Kosmos sah Gingerich das Wirken Gottes
Owen Gingerich, ein in den USA weithin bekannter Astronom mit mennonitischem Hintergrund, ist am 28. Mai im Alter von 93 Jahren in Belmont, Massachusetts, gestorben. Die New York Times widmete ihm einen umfangreichen Nachruf (11.6.2023). In seinen Veröffentlichungen betonte Gingerich häufig die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Glauben.
Eigenwerbung mit Flugzeugbanner
Professor Gingrich lehrte viele Jahre in Harvard Astronomie und Wissenschaftsgeschichte. Bei seinen Studenten genoss er den Ruf eines hervorragenden Dozenten. So soll er sich manchmal als Gelehrter des 16. Jahrhunderts verkleidet haben. Als sein beliebter Kurs „The Astronomical Perspective“ nicht so schnell ausgebucht war wie er es sich gewünscht hätte, mietete er ein Flugzeug, um ein Banner über dem Campus zu fliegen, auf dem für den Kurs geworben wurde. Gingerich sammelte seltene Bücher sowie Muscheln und Schneckenschalen. Er bereiste die Welt, um Sonnenfinsternisse zu beobachten.
Kopernikus und seine bahnbrechende Idee
Die Beharrlichkeit Gingerichs war notorisch. Der Schriftsteller Arthur Koestler hatte 1959 behauptet, dass das Kopernikus-Buch „De Revolutionibus Orbium Coelestium Libri Sex“ („Über die Umdrehungen der himmlischen Sphären“) zu seiner Zeit nicht gelesen wurde. Dabei hatte Kopernikus darin eine bahnbrechende Erkenntnis veröffentlicht: Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Für die Zeitgenossen von Kopernikus kam dies einer Blasphemie gleich, hieß es doch in Psalm 104,5: „Der du das Erdreich gegründet hast auf festem Boden, dass es nicht wankt immer und ewiglich.“ Und ein solches häretisches Buch soll nicht beachtet worden sein?
Spannend wie ein Krimi: Das Buch, das niemand las
Gingrich bewies das Gegenteil, indem er in einer 30-jährigen weltweiten Suche 600 Ausgaben der Erstausgabe ausfindig machte und in detektivischer Feinarbeit auf den intensiven Gebrauch hinwies und darlegte, wie sich die revolutionären Erkenntnisse verbreitet hatten. Seine Dokumentation nannte er: „The Book Nobody Read“ (2004). Zu Deutsch: Das Buch, das niemand las. Ein Buch, das für Wissenschaftler und Liebhaber von Detektivromanen gleichermaßen faszinierend war.
Gingerich wuchs als Mennonit auf
Gingerich wuchs als Mennonit auf und studierte unter anderem am mennonitischen Goshen College. Schon damals interessierte er sich für Astronomie, worauf ihm ein Professor einen Rat mit nachhaltiger Wirkung gab: „Wenn Sie sich berufen fühlen, Astronomie zu betreiben, sollten Sie es tun. Wir können nicht zulassen, dass die Atheisten irgendein Feld übernehmen.“ Zeit seines Lebens sprach und schrieb er über seine Überzeugung, dass Religion und Wissenschaft nicht im Widerspruch stehen müssen. Aus dieser Betrachtungsweise entstanden die beiden Bücher „God’s Universe“ (2006) und „God’s Planet“ (2014).
Ein Universum mit Absicht und Zweck
Allerdings lieferte er keine Munition für Kreationisten, welche die Schöpfungsgeschichte der Bibel wörtlich nehmen. Er war nur davon überzeugt, dass eine superintelligente Kraft im Weltall existiert. Laut Paul Schrag, Herausgeber der mennonitischen „Anabaptist World“ könnte Gingerichs Weltanschauung auf diese Weise zusammengefasst werden: „Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes“. Ihm gegenüber hatte Gingerich unterstrichen: „Es ist sinnvoll, an ein Universum mit Absicht und Zweck zu glauben und nicht an eines mit unglaublichem Zufall“. Wissenschaftliche Theorien und religiöse Überzeugungen vereinen in der Sichtweise von Gingerich dasselbe Prinzip: Sie funktionieren, wenn sie überzeugende Erklärungen für das liefern, was Menschen beobachten und erleben.
Interesse begann in einer Sternennacht
Owen Gingerich wurde am 24. März 1930 in der Stadt Washington im Südosten von Iowa geboren. Sein Vater Melvin war Geschichtslehrer an einer High School und später College-Professor in Goshen. Seine Mutter Verna war Hausfrau. Beide waren in der Mennonitenkirche aktiv. In einem Interview mit dem Amerikanischen Institut für Physik berichtet er, dass er sich schon sehr früh für Astronomie interessiert habe. Im Alter von fünf Jahren nahm ihn seine Mutter abends mit nach draußen. „Und ich sagte: ‚Mama, was ist das?‘ Und sie sagte: ‚Das sind Sterne. Du hast sie oft gesehen.‘ Worauf ich geantwortet haben soll: „Aber ich wusste nicht, dass sie die ganze Nacht draußen geblieben sind.“ Das war also der Beginn meiner Astronomie (Oral-History-Interviews | Owen Gingerich | Amerikanisches Institut für Physik (aip.org).
Vom Goshen College nach Harvard
Am Goshen College, wo er 1951 seinen Abschluss machte, begann er sich für Journalismus zu interessieren und war Herausgeber des College-Jahrbuchs und der College-Zeitung. Er bekam auch einen Sommerjob am Harvard College Observatory und bewarb sich in Harvard für ein Graduiertenstudium, zunächst in der Hoffnung, Wissenschaftsjournalist zu werden. Er erwarb 1953 seinen Master-Abschluss in Harvard und promovierte dort 1962. In jener Zeit war er Mitglied der Mennonitengemeinde von Boston. Bald darauf begann er, in Harvard zu unterrichten. Im Jahr 2000 ging er in den Ruhestand. Verheiratet war er seit 1954 mit Miriam Sensenig. Sie überlebt ihn, zusammen mit den Söhnen Jonathan, Peter und Markus, drei Enkelkindern und einem Urenkelkind.